„Die Vergangenheit ist ein anderes Land“, schrieb der britische Historiker Tony Judt, um den Umgang der europäischen Gesellschaft mit der Herrschaft des Nationalsozialismus nach 1945 zu beschreiben. Dieses ferne Land der Vergangenheit kann aber heute direkt vor der Haustüre liegen. Dies bemerkten die Bewohnerinnen und Bewohner von Strasshof, einem Ort in der Nähe der österreichischen Hauptstadt Wien, als sie sich auf die Suche nach den Spuren eines Zwangsarbeitslagers machten, das sich während des Zweiten Weltkriegs hier befand.
Die eigentliche Geschichte des Lagerkomplexes Strasshof begann im Jahr 1942. Bereits im Herbst 1941 hatte die nationalsozialistische Führung erkannt, dass der bis zum Winter erwartete Sieg über die Sowjetunion nicht eintreten würde. Sie musste Ersatz für die zum Kriegsdienst eingezogenen Männer finden. So begann die Planung für den massiven Einsatz von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus den besetzten Staaten Europas. Zu diesem Zweck wurden im Reichsgebiet anfangs 22 Durchgangslager errichtet. Strasshof war eines davon. Der Standort Strasshof wurde gewählt, weil er in der Nähe von Wien lag und mit der Nordbahn eine günstige Verkehrsanbindung vorhanden war. Die Baracken boten Platz für die Unterbringung von 6000 Personen, die hier vor dem Weitertransport zu ihren Arbeitsstätten im Osten Österreichs kurzfristig interniert wurden.
Menschen aus ganz Europa brachte die NS-Verwaltung meist unter Zwang nach Strasshof: Die Transporte kamen unter anderem aus der Ukraine, Russland, Serbien, Griechenland, Frankreich, Belgien, Ungarn und Polen.
Nach ihrer Ankunft wurden die Menschen einem Desinfektionsprozess unterzogen. Ihre Kleidung wurde ihnen abgenommen und mit Giftgas von Ungeziefer gereinigt. Sie selbst wurden in kleinen Gruppen nackt in die Waschräume zum Duschen getrieben. Danach stand eine ärztliche Untersuchung an, um ihre Arbeitsfähigkeit festzustellen. War diese gegeben, erfassten Beamte des Arbeitsamts die Daten der einzelnen Personen auf Karteikarten. Die Abnahme der Fingerabdrücke und ein Foto für den Fremdarbeiterausweis beendeten diese Prozedur. Daraufhin brachten die Lagerwachen sie in den sogenannten „reinen Teil“ des Lagers. Dort mussten sie einige Tage, meist mit nur Suppe und Dörrgemüse versorgt, warten. Das Arbeitsamt teilte sie darauf einem Betrieb zu. und organisierte den Transport dorthin..
Im Durchgangslager Strasshof befand sich auch ein Krankensammellager, in dem in der Region eingesetzte Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter behandelt wurden. Schon allein der durch körperliche Überanstrengung oft schlechte allgemeine Zustand der Erkrankten bedingte eine hohe Sterblichkeitsrate. Die Massengrabanlage am Friedhof Strasshof legt Zeugnis davon ab.
Neben dem Durchgangslager gab es mehrere kleine Lager in Strasshof selbst. Die dort internierten Menschen wurden für den Bau der Eisenbahnanlagen, des an der Ortsgrenze gelegenen Flugplatzes Deutsch-Wagram und in der lokalen Landwirtschaft eingesetzt.
Im Sommer 1944 hatte das Deutsche Reich die Gebiete wieder verloren, aus denen es zuvor die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter rekrutiert hatte. Als Ersatz deportierte man mehr als 20.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Ungarn nach Strasshof. Sie entgingen damit ihrer Ermordung in Auschwitz. Stattdessen wurden sie zur Zwangsarbeit in Ostösterreich eingesetzt. Der Versuch einen Teil von ihnen im März 1945 über Strasshof in das Konzentrationslager Theresienstadt zu deportieren, verhindert die Zerstörung der Gleisanlagen durch ein alliiertes Bombardement. Die Rote Armee befreite das Durchgangslager am 10. April 1945. Nach Kriegsende verschwanden die Baracken rasch, da die Baustoffe anderweitig verwendet wurden und ebenso schwand im Ort die Erinnerung an das Lager.
Im Jahr 2006 wurde der Name Strasshof durch den Kriminalfall Natascha Kampusch weltweit bekannt. In Strasshof fand sich daraufhin eine Gruppe von Menschen, die sich dem damals in den Medien verbreiteten düsteren Image der Gemeinde stellen wollte, indem sie bereit war, einen kritischen Blick auf ihre Geschichte zu werfen. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts begann sie mit der Suche nach den Spuren der Zwangsarbeitslager, sie suchte Zeitzeugen sowie recherchierte die Namen der Opfer, von denen bis dahin nur ein Teil bekannt war.
Im Jahr 2011 errichtete der Verein Arbeitsgruppe Strasshof ein Erinnerungsmal, gestaltet vom Künstler Karl-Heinz Schreiner und gebaut mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Strasshof, des Landes Niederösterreich und des Nationalfonds der Republik Österreich. Unweit des ehemaligen Lagergeländes errichtet, soll es die Erinnerung wach halten, auch dann noch wenn die letzten Spuren im Gelände verschwunden sein werden. Zudem entstand eine Publikation der Forschungsergebnisse, die von der Journalistin Irene Suchy verfasst wurde. In dem Buch berichten Zeitzeugen aus dem Ort und Deportierte aus Ungarn, die überlebt haben, von ihren Erfahrungen in Strasshof.
In Fortführung dieser Arbeit ist es uns, der Arbeitsgruppe Strasshof, ein Anliegen, weiter Material zu sammeln, um die fast vergessene Geschichte des Lagers Strasshof aufzuarbeiten und das Gedenken an die Opfer des Lagers wachzuhalten.